Es sind unruhige Zeiten vor 100 Jahren. Das Ende des Ersten Weltkrieges liegt nicht mal drei Jahre zurück. Die Wirtschaft liegt am Boden. Dafür nimmt die Inflation an Fahrt auf, die zwei Jahre später zur völligen Geldentwertung führt. Trotz oder korrekter gesagt: gerade wegen dieser widrigen Umstände wird in Mannheim ein Unternehmen ins Leben gerufen, das seither alle Stürme der Geschichte überlebt. Auch deshalb, weil es seiner Zeit oft voraus ist.

Zukunftsweisend ist schon seine Entstehung. Akteure völlig unterschiedlicher Struktur, geografischer Herkunft und Interessen finden sich zusammen. Da ist zum einen die Stadt Mannheim, die zwar zwei Kraftwerke besitzt – eines im Industrie- und eines im Rheinauhafen; doch die sind veraltet und zu klein.

Da sind die Pfalzwerke Ludwigshafen. Deren wichtigster Stromlieferant, das Kraftwerk Homburg, liegt im Saargebiet, das unter französischer Verwaltung steht. Die Kohle dafür muss daher in Franc bezahlt werden, gegenüber dem die Reichsmark immer mehr an Wert verliert.

Ein ganz anderes Problem hat die Badische Elektrizitätsversorgung in Karlsruhe. Sie braucht jemanden, der ihr Strom liefern kann, wenn ihre Wasserkraftwerke im Schwarzwald nicht ausreichend produzieren, im gegenteiligen Fall aber auch ihren überschüssigen Strom abnimmt. Ebenso wie die Neckar-AG in Stuttgart, die ihren Strom mit den Staustufen des Neckars erzeugt.

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Rauchende Schlote des GKM um 1923 – lange Zeit Symbol für Wohlstand.


Vier Gründerväter


Am 8. November 1921 ist es soweit: Die Vertreter der Stadt Mannheim, der Pfalzwerke, der Badischen Landes-Elektrizitätsversorgung Karlsruhe und der Neckar-AG Stuttgart unterzeichnen den Vertrag zur Gründung der Grosskraftwerk Mannheim AG. Bis heute haben sich die Besitzverhältnisse übrigens nur wenig geändert: RWE hält 40 Prozent, die EnBW 32 und die MVV 28 Prozent.

Als Standort für das neue Werk wird ein Grundstück in Neckarau gewählt, direkt am Rhein – dort, wo der große Strom einen Knick macht. Hier besteht die Möglichkeit, Kohle per Schiff anzuliefern und Kühlwasser abzuzapfen. Und doch ist man sehr nahe bei den Verbrauchern.

Ende 1921 beginnen die Arbeiten, zwei Jahre später geht das Werk in Betrieb – mit noch ganzen 68 Mitarbeitern. An ihre Spitze wird der 43-jährige Elektro-Ingenieur Karl Friedrich Marguerre berufen, eine Koryphäe der Kraftwerkstechnik.

Die ersten drei 12,5-Megawatt-Anlagen bringen es auf einen Wirkungsgrad von gerade 17 Prozent. Noch werden 700 Gramm Kohle je Kilowattstunde benötigt. Denn noch arbeitet das GKM mit 20 bar Dampfdruck und 350 Grad Dampftemperatur. Doch das bleibt nicht so.

Vorreiter der Kraftwerkstechnik

Um die Effizienz zu erhöhen, baut das GKM 1928 die erste „100-Atmosphären-Anlage“ Europas. Mit einer 100-bar-Vorschaltanlage und Temperaturen von 400 Grad wird der Brennstoffverbrauch von 700 auf 600 Gramm Kohle je Kilowattstunde gemindert. Die Kosten der Stromproduktion sinken um 20 Prozent.

Doch schon bald folgen neue Herausforderungen: eine ökonomische mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 und eine politische mit dem Machtantritt der Nazis 1933. Es kommt zur düstersten Stunde in der Geschichte des GKM: seiner Beteiligung an der Arisierung jüdischen Vermögens.

In einem Vertrag vom 26. September 1938, eineinhalb Monate vor den Novemberpogromen, „erwirbt“ das Unternehmen drei nahe gelegene Ackergrundstücke von der Familie Erlanger. Max Erlanger stirbt 1940 wenige Tage vor seiner Deportation nach Gurs, die Spur seiner Ehefrau Lina verliert sich 1942 auf einem Transport ins Vernichtungslager Auschwitz. 1950 muss das GKM ihrem Sohn Lothar zwei der Grundstücke zurückgeben und für das dritte finanzielle Entschädigung leisten.

Zunächst blockieren die Nazis einen Ausbau des Werkes – wegen seiner Grenznähe zum feindlichen Frankreich. In Erwartung des geplanten Krieges entschließen sie sich später zum Ausbau – unterirdisch.

Die komplette 32 Megawatt starke Anlage, nach dem Rufnamen des Direktors „Fritz“ genannt, wird in einen 16 Meter tiefen und 38 Meter langen Bunker verlegt. Die drei Meter dicke Betondecke ragt sechs Meter aus dem Boden. Zur Tarnung wird sie mit Steinkohle bedeckt. So übersteht „Fritz“ alle Luftangriffe, während andere Teile des Werkes ein Opfer der Bomben werden.

Doch so technisch und logistisch brillant das Werk „Fritz“, so moralisch verwerflich seine Umstände: 156 Zwangsarbeiter – Franzosen, Holländer, Polen, Tschechen, Slowaken – schuften im GKM und bei der nahen Firma Grün & Bilfinger (dem heutigen Konzern Bilfinger), hausen unter erbärmlichen Bedingungen im Lager Plinaustraße 12.

Als 1945 der Krieg verloren ist, wird das GKM als Rüstungsbetrieb eingestuft und daher zur Demontage freigegeben. Die Franzosen bauen das „Fritz“-Werk bis 1947 ab und verfrachten es nach Frankreich.

Auf den Resten beginnt in Neckarau der Neuaufbau – unter Leitung von Marguerre, inzwischen bald 70 Jahre alt. Dass er die gesamte NS-Zeit über eine Betriebsstätte leitet, die an der Heimatfront eines Angriffskrieges zur Energieversorgung beiträgt und Zwangsarbeiter beschäftigt, interessiert damals sogar die Alliierten nicht; später erhält er das Bundesverdienstkreuz, wird Ehrenbürger von Mannheim, Namenspate der Straße zum GKM.

Denn es zählt alleine der Aufbau. Und der wird geschafft. Bereits 1951 erbringt die „Ersatzanlage 47“ eine Leistung von 215 Megawatt. 1953 wird gar eine neue Höchstmarke erreicht: Die Stromabgabe übersteigt eine Milliarde Kilowattstunden.

1954 geht eine neue Anlage in Betrieb, der Block 1 des Werkes II. Nun reichen 320 Gramm Steinkohle, um eine Kilowattstunde Strom zu erzeugen, was den Wirkungsgrad auf 38,2 Prozent hochschraubt – Weltspitze.

Die neu entwickelte Voith-Marguerre-Kupplung erlaubt es zudem, auch 16-2/3-Hertz-Einphasenbahnstrom und 50-Hertz-Drehstrom zu erzeugen – Beginn der Partnerschaft zwischen GKM und Bundesbahn. 2019 bezieht die Bahn AG 15 Prozent ihres Stroms vom GKM, für das dieses Geschäft wiederum 16 Prozent seines Umsatzes darstellt. Doch in jenem Jahr kündigt die Bahn an, diesen Vertrag nicht zu erneuern und künftig auf Ökostrom zu setzen.
      

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Karl Friedrich Marguerre, 1921 bis 1952 Chef des GKM, hier in späten Jahren.


Innovation Fernwärme


1959 folgt eine neue Technik und damit ein neuer Markt: die Fernwärme. Mit einer von Marguerre bereits in den 1920er Jahren entwickelten Methode, der Kraft-Wärme-Koppelung, werden Strom und Wärme gleichzeitig erzeugt – auch ökologisch sinnvoll, denn dadurch wird der Rohstoff noch effizienter verwertet. Jahrzehnte später wird die Fernwärme sogar ein Exportschlager in der Region: 1987 geht eine 13 Kilometer lange Heißwasserleitung nach Heidelberg in Betrieb; Autofahrer unterfahren die Röhre auf der B 36 in Höhe Rheinau. Heute beziehen etwa 165 000 Haushalte in der Region Fernwärme aus dem GKM.

In den späten 1960er und 1970er Jahren erliegen die Verantwortlichen jedoch auch hier dem Zeitgeist, sind versucht, die gute alte Kohle durch angeblich modernere Rohstoffe wie Erdöl zu verdrängen. Ja, sogar der Bau eines Kernkraftwerks wird angedacht, mit Standort in Kirschgartshausen bei Sandhofen. Doch Ersteres machen die Ölpreiskrisen von 1973 und 1980 unwirtschaftlich, Letzteres der fehlende gesellschaftliche Konsens illusorisch.

Allerdings nimmt das in den 1970er Jahren entstandene Umweltbewusstsein auch die Steinkohle ins Visier, manifestiert sich zu Beginn der 1980er Jahre in gesetzgeberischen Vorgaben. 1983 tritt die Großfeuerungsanlagen-Verordnung in Kraft. Der Ausstoß von Schwefeldioxid und Stickoxiden im Rauchgas muss gesenkt, jede Anlage bis 1988 nachgerüstet werden. Geschieht das nicht, muss sie stillgelegt werden – das Ende des GKM mit seinen damals fast 1300 Mitarbeitern. Die Verantwortlichen entscheiden, das nötige Geld in die Hand zu nehmen: Die Steinkohle-Blöcke 3, 4 und 7 werden nachgerüstet – für mehr als eine halbe Milliarde D-Mark. Überhaupt wird in jenen Jahren kräftig investiert: Der neue 480-Megawatt-Steinkohlenblock 8 verschlingt eine Milliarde D-Mark. Doch die Zeiten, in denen derartige Investitionen bejubelt werden, sind vorbei. Auch die Sicherung der damals ohnehin nur noch 579 Arbeitsplätze verfängt als Argument nicht mehr überall.

Das zeigt sich beim Beschluss zum 1,2 Milliarden Euro teuren Bau von Block 9, der eine breite politische Debatte auslöst. Die im Gegenzug geplante Schließung der Blöcke 3 und 4 beschwichtigt die Kritiker nicht. Es kommt sogar zu einer Klage vor dem Verwaltungsgericht, die jedoch scheitert. 2009 wird die Baugenehmigung erteilt, der Bau beginnt.

2015 geht Block 9 mit einer Leistung von 911 MW an den Start. Mit einem Wirkungsgrad von 46,4 Prozent und einer Brennstoffausnutzung von bis zu 70 Prozent setzt er technisch neue Maßstäbe. Denn im Vergleich zu alten Kraftwerksanlagen benötigt Block 9 deutlich weniger Kohle, um die gleiche Menge Strom zu erzeugen. Damit verfügt das GKM über das modernste Steinkohlekraftwerk Deutschlands und ist mit einer Werksleistung von 2150 Megawatt größter Energiestandort in Baden-Württemberg. Bis jetzt.

Denn mit der Entscheidung der Bundesregierung von 2020, bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung auszusteigen (je nach Ausgang der aktuellen Koalitionsverhandlungen früher), ist dem GKM die bisherige Existenzgrundlage entzogen. Ob es für das Werk eine Zukunft gibt, hängt davon ab, ob und wann eine Energieerzeugung ohne Steinkohle gelingt. Der Kaufmännische Vorstand Holger Becker ist optimistisch: „Das Ende der Kohle wird nicht das Ende des GKM sein.“ Konstantin Groß 
   

Zeitreise in Bildern

Rückblick: Vor 100 Jahren wurde die Grosskraftwerk Mannheim AG gegründet – Eindrücke aus der Unternehmensgeschichte.

Von Martin Geiger 

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1921 – Der Anfang - Unmittelbar nach der Gründung der Grosskraftwerk Mannheim AG am 8. November 1921 beginnt der Bau des Steinkohlekraftwerks in Neckarau. 1923 nimmt die Anlage den Betrieb auf.
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1940 – Das „Werk Fritz“ - Während der NS-Herrschaft wird kurz vor dem Zweiten Weltkrieg der Bau des „Werk Fritz“ beschlossen: Es geht 1940 ans Netz und befindet sich in einem 16 Meter tiefen Bunker – der mit Kohle überschüttet wird.
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1954 – Block 1 - Mit Block 1 des neuen Werks II setzt sich das GKM 1954 an die Spitze der weltweiten Kraftwerkstechnik. Ab nun wird auch Strom für die Deutsche Bahn erzeugt – der Beginn einer langen Partnerschaft.
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1959 – Die Fernwärme - Neben Strom wird nun auch Wärme erzeugt: 1959 fließt erstmals Heizwasser in die Stadt. Das erhöht die Energieausbeute und spart viele Heizungsanlagen. Heutzutage werden 165 000 Haushalte versorgt.
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1973 – Block 5 - Zeitenwende: Der neue Block 5 (rechts) ist für Heizöl und Erdgas ausgelegt. Doch bevor die Kostenvorteile sich auszahlen, kommen die Ölpreiskrisen.
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1983 – Block 7 - Die Modernisierung geht weiter: Mit Block 7, der gleichzeitig Strom und Wärme erzeugt, ersetzt 1983 eine Anlage einer neuen Kraftwerksgeneration das alte Werk I, das „Marguerre-Werk“.
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2015 – Block 9 - Der im Vorfeld heftig umstrittene Block 9 nimmt 2015 den Betrieb auf – nach sechs Jahren Bauzeit. Die Anlage kostet rund 1,2 Milliarden Euro, ersetzt die Blöcke 3 und 4 und ist eine der modernsten Europas.