Ein neuer Spieler wurde verpflichtet. Die meisten Eishockey-Anhänger rufen schon in den ersten Minuten nach Veröffentlichung der entsprechenden Pressemitteilung eine renommierte Szenen-Seite im Internet auf, die über die wohl größte Datenbank an Spielern verfügt und auf der zeitnah nahezu alle Transferbewegungen aufgeführt sind, die in der Eishockeywelt stattfinden. Joseph Cramarossa a.k.a. ,,Joe Cramarossa". #91 Adler Mannheim / DEL - 22/23. All diese Informationen zu Namen, Spitznamen, Trikotnummer, Club, Liga und Saison finden sich allein im Kopf neben einem Porträt auf der Spielerseite von Joseph Cramarossa. Zudem kann auf den ersten Blick abgelesen werden, wie viele Tore sowie Vorlagen Cramarossa in den jüngsten fünf beziehungsweise zehn Partien gesammelt hat und wie der Plus-minus-Wert für diesen Zeitraum aussieht.

Als Nächstes folgen die Angaben zu Geburtsdatum, Alter, Geburtsort, Nationalität, Position, Größe, Gewicht - sowohl in amerikanischen wie europäischen Maßeinheiten, zur Vertragslaufzeit, der Draftposition (sofern vorhanden) und zu Verwandtschaftsgraden zu anderen aktiven und inaktiven Eishockeyspielern. Das Herzstück bildet allerdings eine gut gefüllte Tabelle. Eine Tabelle, in der jede einzelne Zeile eine absolvierte Saison abbildet, beginnend meist mit der Nachwuchsstation der U16. Welcher Club, welche Liga, wie viele Spiele, Tore, Vorlagen, Punkte und Strafminuten. Mit nur einem Klick, mit nur einem Seitenaufruf und wenigen Sekunden Nachschlagearbeit lässt sich quasi im Handumdrehen eine Flut an Zahlen und Statistiken zu einem Spieler finden. Ein erster Eindruck entsteht.

MIT DEM NÖTIGEN HUMOR

Bei Cramarossa fallen unweigerlich die Strafminuten ins Auge. Schon im Alter von 18 Jahren sammelte der heute 30-jährige Kanadier in 59 OHL-Hauptrundenspielen 101 Strafminuten. Zwei AHL-Spielzeiten mit ebenfalls über 100 Strafminuten festigen schnell das Bild eines sogenannten Tough Guys, eines Schlägers, eines Raubeins. ,,Ich weiß, welcher Ruf mir vorauseilt", hat Cramarossa kein Problem über sein zweifelhaftes Image zu sprechen, das durch zahlreiche Sequenzen von Schlägereien auf einer großen Internet-Videoplattform gestützt wird. ,,Ich würde dort auch gerne mehr meiner Vorlagen oder Toren sehen, aber leider habe ich keine Ahnung, wer für das Hochladen verantwortlich ist", nimmt es der sympathische Stürmer gar mit Humor, stellt aber auch unmissverständlich klar: ,,Wer mich spielen sieht, stellt schnell fest, dass ich auch andere Qualitäten habe. Ich kann der harte Spieler sein, aber ich bin nicht talentfrei, habe eine gute Geschwindigkeit und meine offensiven Qualitäten. Ich kann in Unter- und Überzahl auf dem Eis stehen, am Ende jede Rolle übernehmen, die ausgefüllt werden muss."

Ehrlicherweise wirkt Cramarossa auch nicht wie der klassische Goon. Mit 1,85 Meter und 86 Kilo bringt der in Markham geborene Drittrundendraftpick der Anaheim Ducks aus dem Jahr 2011 gute körperliche Voraussetzungen mit, allerdings nicht unbedingt das Gardemaß, das die harten Hunde sonst vorweisen. Vielmehr wusste der Linksschütze schon in der ersten Trainingseinheit in Mannheim mit läuferischer und technischer Klasse zu gefallen. Und das, obwohl die Woche zuvor äußerst turbulent verlief. ,,Alles ging sehr schnell. Ich hörte vom Interesse der Adler, hatte noch Zeit, mir ein paar andere Optionen anzuschauen, habe mich mit meiner Familie und meinen Freunden beraten und bin schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass Mannheim der nächste Schritt in meiner Karriere ist. Ich musste mittwochs zunächst noch den Ausstiegsprozess bei meinem Team abwarten, bin im Anschluss zwei Tage lang nach Hause gefahren, dort eine Nacht geblieben und am Sonntag nach Frankfurt geflogen", blickt Cramarossa, der sich als geselliger Typ bezeichnet, auf die Zeit Mitte Januar zurück.

DEN VATER ALS IDOL

Nicht nur auf die Strafzeiten reduziert zu werden, ist Cramarossa vielleicht auch deswegen so wichtig, weil sein Vater Vito Cramarossa lange Jahre sein Trainer und Vorbild war und als solcher für die Ausbildung seines Schützlings verantwortlich zeichnete. ,,Mein Dad hat Eishockey gespielt und ich habe ihn oft bei Spielen oder im Training besucht. Irgendwann, laut meinen Eltern war ich vier Jahre alt, lag ein abgebrochener Schläger neben der Eisfläche. Ich habe ihn aufgehoben und damit gespielt. So bin ich überhaupt zum Eishockey gekommen. Bis ich 15 Jahre alt war, coachte mich mein Vater. Er war neben Joe Sakic, dessen umgekehrte Rückennummer ich übrigens trage, mein Idol", weiß Cramarossa, dessen Nachname italienische Wurzeln besitzt, was er seinem Vater zu verdanken hat.

Doch auch über seinen eigenen Beitrag zu einer Karriere, die zehn AHL-Jahre mit über 400 Partien sowie die Erfahrung von 68 Einsätzen in der NHL, der besten Liga der Welt, ist Cramarossa im Bilde: ,,Während viele meiner Freunde früher freitags und samstags auf Partys waren, hatte ich Spiele. Ich habe auch keine Universitätserfahrungen gemacht. Viele meiner Freunde sagen rückblickend, dass das die besten Jahre ihres Lebens waren. Allerdings habe ich dafür einige Erfahrungen machen dürfen, die sich andere nur wünschen können. Ich habe quasi Erfahrungen eingetauscht, habe welche verpasst, die 99 Prozent aller anderen Jugendlichen machen, habe andere gewonnen, die nur ein Prozent erleben dürfen. Sicher war ich damals etwas enttäuscht, dass ich vieles nicht mitmachen konnte. Je älter ich aber werde, desto mehr weiß ich meine einzigartigen Erfahrungen zu schätzen", nimmt der verheiratete Cramarossa die Entbehrungen im Jugendalter inzwischen pragmatisch.

MIT LEICHTIGKEIT

Überhaupt nimmt man Cramarossa bedenkenlos ab, dass er den Herausforderungen des Lebens und denen eines Profisportlers generell mit einer gewissen Leichtigkeit gegenübertritt. Ich versuche nie der Klassen-Clown zu sein, aber viele Menschen finden das, was ich sage oder wie ich es sage, lustig. Ich habe stets eine sehr professionelle Einstellung, bin aber der Meinung, dass man die Dinge trotzdem leicht und mit Humor nehmen sollte." Nicht zu ernst und lösungsorientiert diese Eigenschaften lassen sich bei Cramarossa schnell finden. Entdeckt der Spinnenphobiker beispielsweise eines der unliebsamen Krabbeltiere während des Fernsehschauens in seinem Zimmer, wird der ungebetene Gast mehr oder weniger mutig mit einem Stock aus dem Haus befördert, der Fernseher in ein höher gelegenes Zimmer gebracht, der spinneninfizierte Raum mit Tape zugeklebt und fortan einfach nicht mehr betreten. So geschehen am ersten Abend nach seiner Ankunft in Mannheim. 

Eishockey ist, typisch amerikanisch, ein Statistiksport. Ohne viel Rechercheaufwand lassen sich schnell jede Menge Zahlen, Trends und vermeintliche Zusammenhänge zu Spielern finden. Doch nicht immer lassen sich auf diesen Grundlagen zuverlässige Porträts erstellen. Nicht immer erzählen die Zahlen die ganze, die wahre Geschichte. Joseph Cramarossa a.k.a. Joe Cramarossa kann hinlangen, wenn es nötig ist. Kann fighten, wenn es gewünscht ist. Joseph Cramarossa ist aber auch ein sehr guter Schlittschuhläufer, ein feiner Techniker, ein absolut mannschaftsdienlicher Spieler. Joseph Cramarossa ist aufgeschlossen, sympathisch, pragmatisch, nimmt das Leben und sich selbst nicht zu ernst. Cramarossa wirkt bodenständig, freundlich, lustig. Cramarossa ist kein Raubein, kein Schläger. Cramarossa ist viel mehr, als die nackten Zahlen über ihn aussagen.