In der Corona-Pandemie haben alle Familien schwere Last zu tragen (gehabt). Schließlich haben sich die Rahmenbedingungen des gemeinsamen Alltags unvorhergesehen und drastisch verändert. Dazu die Sorge vor einer Infektion und die große Verantwortung für die eigene Gesundheit, die der Familie und die aller anderen in der Gesellschaft. Im Moment fühlt es sich zwar in einigen Bereichen nach einer Rückkehr zur Normalität an, doch trauen sich viele Eltern und Kinder noch nicht durchzuatmen, viele sind verunsichert. Welche Folgen die Krise für die Kinder gebracht hat und bringt, ist noch nicht klar. Im Gespräch stehen zwei Expertinnen für die Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen Rede und Antwort: Dr. med. Sandra Gerstner, Oberärztin und Leitung der Tagesklinik für Kinder bis 12 Jahre sowie der Station C-KJ, einer offenen, gemischten Station für Kinder und Jugendliche am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, und ihre Kollegin, Dr. Yvonne Grimmer, Oberärztin und Leitung der KJP-Ambulanz sowie Leitung der Initiative Hilfe für Kinder psychisch erkrankter Eltern. Die beiden Fachfrauen zeigen auf, wie es in Familien derzeit aussieht, erklären, was hilft, um Kinder in und nach der Krise zu stärken und sagen, wann der Punkt gekommen ist, an dem eine Familie professionelle Hilfe hinzuziehen sollte.

Die Corona-Krise geht auch an Kindern nicht spurlos vorbei. Welche psychischen Folgen stellen Sie fest?

Sandra Gerstner: Es zeigen sich Ängste, beispielsweise Leistungs- und Versagensängste, Schulvermeidung, Bewertungsängste, aber auch Zwänge und depressive Verstimmungen, unter anderem mit Rückzug, Traurigkeit, Isolation, aber auch Gereiztheit, Traumafolgestörungen und Essstörungen.

Yvonne Grimmer: Es gab während des Lockdowns Deprivationen und Gewalterfahrungen, die nirgends oder aufgefangen werden konnten, entsprechend zeigen sich hier auch teilweise die genannten Folgeschäden.

Gerstner: Wir sehen Kinder mit Wissenslücken und Entwicklungsrückständen, insbesondere bei den Kindern, die bereits vorher Probleme hatten oder aus sozial schwachen Familien kommen – fehlende Struktur, unzureichende Möglichkeiten einer Hilfestellung, keine adäquaten Rollenmodelle. Die Folge ist häufig sozialer Rückzug, beziehungsweise diese Kinder fühlen sich ausgeschlossen.

Grimmer: Die Sorgen der Eltern übertragen sich auf die Kinder. Das alleine verursacht zwar in der Regel noch keine psychischen Störungen, kann aber zu einer allgemeinen Verunsicherung in Bezug auf anstehende Entwicklungsaufgaben und Zukunftsperspektiven beitragen.

Gerstner: In der Pandemiezeit haben wir auch einen erhöhten Medienkonsum bei den Kindern beobachtet, was zu mehr Auseinandersetzungen und Konflikten in den Familien geführt hat.

Was können Eltern und Bezugspersonen im Alltag konkret tun, um Kindern die Situation zu erleichtern?

Grimmer: Es ist wichtig für Eltern, im Gespräch und im offenen, verständnisvollen Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen zu bleiben. Das kann auch einfach eine regelmäßige gemeinsame Mahlzeit sein. Eltern sollten die Sorgen und Ängste ihrer Kinder ernst nehmen und dafür einen Raum schaffen, so dass Probleme der Kinder wahrgenommen und gehört werden können; bei Jugendlichen sollte man besonders aufmerksam sein für die kurzen Zeitfenster, in denen Gespräche möglich sind und darf diese nicht verstreichen lassen.

Gerstner: Genauso wichtig ist es jedoch, dass Eltern auf die eigenen Bedürfnisse achten, um so genug Ressourcen zu haben, den Bedürfnissen ihrer Kinder – neben empathischem Verständnis auch Struktur geben, Grenzen ziehen – angemessen zu begegnen, was oft auch sehr anstrengend sein kann.

Grimmer: Regelmäßig raus an die frische Luft zu gehen, Vereins- und Gruppenangebote wieder wahrzunehmen, kann sehr hilfreich sein; auch im Herbst und Winter Aktivitäten draußen zu suchen und zuzulassen.

Gerstner: Es ist auch wichtig, die eigene Scham und Versagensängste zu überwinden und Hilfe anzunehmen: von Familie, Freunden, Schule, Vereinen oder anderen Helfersystemen.

Grimmer: Bei der Nutzung digitaler Medien sollten Eltern die Kinder und Jugendlichen angemessen unterstützen und klare Nutzungszeiten und -bedingungen altersentsprechend gemeinsam festlegen. Vor allem bei Jugendlichen ist es wichtig, Offenheit zu zeigen und sich dafür zu interessieren, welche Apps wie genutzt werden – insbesondere soziale Medien, YouTube und Spiele. Hier ist es wichtig, entsprechende Grenzen zu setzen und darauf zu bestehen, dass diese auch eingehalten werden.

Wie können Familien Ängsten am besten begegnen?

Gerstner: Es sollte verständnisvoll und offen mit den Kindern und Jugendlichen über die Ängste gesprochen werden. Dazu gehört es auch, sich die eigenen Sorgen und Ängste der Erwachsenen bewusst zu machen und dies auch so offen wie möglich zu thematisieren. Kinder haben sehr sensible Antennen für die Gefühlslage der Eltern und ein Tabuisieren verstärkt Ängste bei den Kindern noch mehr.

Grimmer: Eigene Informationen einzuholen zu angstbesetzten Themen, um Fragen der Kinder angemessen beantworten zu können, sowie ein Austausch mit Kindergarten, Schule oder Vereinen über das dortige Verhalten des Kindes, kann auch sehr hilfreich sein. Je älter das Kind ist, desto mehr sollte es in alle Schritte, die unternommen werden, einbezogen werden.

Gerstner: Es ist wichtig als Familie, positive gemeinsame Zeit zu verbringen, auch außer Haus zum Beispiel Spaziergänge oder Sport.

Grimmer: Das kann unter anderem auch dazu beitragen, den Leistungsdruck zu reduzieren. Generell sollten bestehende Leistungsansprüche reduziert werden.

Wann ist der Punkt gekommen, an dem Kinder professionelle Hilfe brauchen?

Gerstner: Wenn deutliche Beeinträchtigungen im Alltag beobachtet werden, wie regelmäßiges Zuspätkommen, Fernbleiben der Schule; Verlust von Freundschaften und fehlendes Interesse, regelmäßige Streitsituationen, die nicht wieder gut aufgelöst werden können etc., dann sollte professionelle Hilfe hinzugezogen werden. Anhaltspunkte dafür können auch geäußerte Sorgen bezüglich der Kinder von LehrerInnen, ErzieherInnen oder TrainerInnen sein. Bei Zweifeln sollten Eltern zunächst Beratungsangebote wie psychologische Beratungsstellen oder den sozialen und psychologischen Dienst der Schulen kontaktieren.

Wie schaffen es Kinder, gestärkt aus der Krise herauszugehen?

Grimmer: Es ist wichtig, Unterstützung zu suchen, die den Kindern hilft, ihre Probleme zu bewältigen und zu relativieren. Dabei sollte mit den Ressourcen der Kinder gearbeitet und ihnen vor Augen geführt werden, was sie trotz der schwierigen Situation erreicht haben. ho