Dass es so etwas noch gibt! Für die Christmette an Weihnachten schlüpft der katholische Dekan von Mannheim, Karl Jung, in ein 500 Jahre altes Messgewand, ehe er in der Jesuitenkirche predigt. Es hat auf kuriose Weise den Zweiten Weltkrieg überlebt - versteckt hinter einer Toilette.

Nur ganz vorsichtig, ganz zart fasst er die Kostbarkeit an. „Die sind immerhin über 500 Jahre alt, also aus der Zeit der Reformation", sagt Dekan Karl Jung und staunt selbst dabei, was da am Kleiderständer in der Sakristei der Jesuitenkirche hängt: zwei sehr kostbare Messgewänder aus dem frühen 16. Jahrhundert. Eines davon wird er an Weihnachten tragen. Und das sei dann schon ein erhabenes Gefühl, denn das atmet Geschichte".

Sie sind schwer, mehrere Kilo, und höchst empfindlich. Die edlen Stickereien dürfen nicht geknickt werden. „Aber wir haben das gut eingeübt“, blickt er dankbar zu Mesner Waldemar Staschak. Während Jung sich das Schultertuch umlegt, die Albe (das weiße Untergewand) anzieht, sie mit dem Zingulum bindet und die Stola überwirft, richtet Staschak das große liturgische Gewand. Jung zieht den Kopf etwas ein, und dann hebt der Mesner die kostbare Kasel empor und stülpt sie über den Dekan. Der schlüpft so hinein, dass jeder Knick vermieden wird. ,,Ich muss auch während des Gottesdienstes beim Hinsetzen immer aufpassen“, erklärt Jung.

Über Generationen bewahrt

Gerade zu Hochfesten sind Messgewänder besonders wertvoll gestaltet, je nach Datum im Kirchenjahr tragen sie verschiedene Farben. Stets dienen sie dazu, dass die Persönlichkeit des Priesters zurücktritt, er in erster Linie als Vertreter Jesu am Alter wahrgenommen wird.

Nur zur Christmette, an den beiden Weihnachtsfeiertagen, dem 27. Dezember (Tag des Apostels und Evangelisten Johannes), zu Silvester, Neujahr und Dreikönig trägt Jung das historische Weihnachtsgewand. Das zweite, ebenso alte ,,Wurzel-Jesse-Messgewand", hat er noch nie angezogen. „Man müsste mal überlegen, zu welchem der Hochfeste es passt", so der Dekan, „denn auch das wäre es natürlich wert, gezeigt zu werden, wenn man bedenkt, über wie viele Generationen es bewahrt und wie viele Priester darin schon die Heilige Messe gefeiert haben."

Je näher man beiden gotischen Gewändern kommt, umso beeindruckender sind sie. Beide stammen aus dem frühen 16. Jahrhundert - eine genaue Datierung gibt es aber nicht. Walter Eisert, inzwischen verstorbenes Vorstandsmitglied der ,,Gesellschaft der Freunde Mannheims und der ehemaligen Kurpfalz - Mannheimer Altertumsverein von 1859", hat sie zwar bereits in der Ära des bis 2005 amtierenden Stadtdekans Horst Schroff für eine Broschüre seines Vereins bis ins letzte Detail fotografisch dokumentiert. Historisch komplett erforscht wurden sie aber bisher nicht.

Kostbare Stickerei

Klar ist, dass zur Zeit der Entstehung zunftmäßig organisierte Stickerwerkstätten oder Mönche in Klöstern solche prachtvollen Gewänder anfertigten. Wo genau die beiden Mannheimer Kaseln entstanden sind, bleibt offen. Es gibt eine, nicht genau belegte, Zuordnung zu Flandern. Man weiß indes, dass die Gabelkreuzstickereien - also die senkrechten Stoffstreifen sowie die Kreuzbalken zu den Schultern - erst im 18. Jahrhundert auf das große, helle Seidengewand übertragen worden sind.

Die kostbaren Stickereien des 500 Jahre alten Weihnachtsgewands der Jesuitenkirche zeigen biblische Szenen, bis in allerkleinste Details mit teils goldenen Fäden. BILD: CHRISTOPH BLÜTHNER
Die kostbaren Stickereien des 500 Jahre alten Weihnachtsgewands der Jesuitenkirche zeigen biblische Szenen, bis in allerkleinste Details mit teils goldenen Fäden. BILD: CHRISTOPH BLÜTHNER

Auf dem Weihnachtsgewand befinden sich die fünf Szenen des freudenreichen Rosenkranzes, vorne unten beginnend mit der Verkündigung an Maria durch den Engel Gabriel. Auf dem Brustteil ist sehr breit die Geburt Jesu mit Verkündigung der Engel an die Hirten zu sehen, auf dem Rückenteil die Anbetung des Neugeborenen durch die Heiligen Drei Könige. Dabei fasst das Jesuskind vor dem knienden König in einen goldenen Kelch, greift nach einer Hostie.

Faszinierend ist die bis in allerfeinste Details reichende Stickerei die individuell gezeichneten Gesichter, die Augenbrauen von Maria, radiale Strahlen in ihrem Heiligenschein, die Glieder ihrer Halskette und ihr Stirnband, die Strähnen in den Haaren von Josef, die zugespitzten Latten um den Pferch der Hirten, das gelblichgrüne Gras rund um die Schafe, sprießende Blüten, Blätter der Bäume, die Pfeifen eines Dudelsacks eines Hirten, Pelze und Dolche der Könige - alles präzise dargestellt, und das mit Nadel und (teils goldenem) Faden. Über der Geburtsszene schwebt ein rosa gewandeter Engel mit dem Spruchband ,,Gloria in excelsis".

Durch einen Trick den Krieg überlebt

„Eine wirklich ganz auszeichnete Arbeit", bewundert Jung die Stickereien. Das gilt ebenso für das ,,Wurzel-Jesse-Messgewand" - eine Darstellung des Stammbaums Jesu, wie man es aus dem Lied ,,Es ist ein Ros entsprungen“ kennt. Danach geht aus Jesse, dem Vater des Königs David, ein Spross hervor - Jungfrau Maria, die wiederum Jesu gebärt.

Mit Stoff abgedeckt, hängen beide Gewänder das ganze Jahr über in einem der hohen Eichenholzschränke, die der Aufbewahrung von Messgewändern aus verschiedenen Jahrhunderten dienen. Schließlich verfügt die Jesuitenkirche nicht nur über die zwei Stücke aus dem 16. Jahrhundert, sondern auch noch über zahlreiche Paramente und Ornate aus der Barockzeit - gestiftet den Jesuiten von den Kurfürsten Carl Philipp und Carl Theodor.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs haben sie nur durch einen Trick unbeschadet überstanden. Der ehemalige Mesner der Jesuitenkirche, Bruder Satyrus, brachte den Kirchenschatzneben den Kaseln zahlreiche kostbare Goldschmiedearbeiten - wegen der verstärkten Beschlagnahmung kirchlichen Eigentums durch die Nationalsozialisten und drohende Bombenschäden im Krieg in einer Geheimkammer neben der so genannten Jesuitengruft unter dem Westturm der Jesuitenkirche unter.

Die Gruft diente als Luftschutzkeller für Kirchenbesucher und Kirchenpersonal. Bruder Satyrus richtete für sie eine Nottoilette, direkt neben dem Luftschutzkeller, ein. Dahinter verbarg sich der Zugang dieser Kammer mit den kostbaren Kulturgütern - aber zugemauert. Erst nach dem Krieg wurde die Kammer wieder geöffnet. Peter W. Ragge