Er „wollte lieber ein Paar Finger verlieren“ als die Christmette in der Hofkirche zu Mannheim zu verpassen, schreibt Dichter Christoph Martin Wieland einem Freund 1777 – so berühmt ist einst das festlich gestaltete musikalische Hochamt um Mitternacht am Heiligen Abend bei Kurfürst Carl Theodor. Gefeiert wird in der Hofkirche – also der Mannheimer Schlosskirche. Hierher kommt zumindest der Kurfürst trockenen Fußes, denn es gibt für ihn einen direkten Gang vom Schloss-Westflügel zu dem Gotteshaus. Über dem Eingangstor auf der rückwärtigen Empore, wo heute die Orgel ist, befindet sich die „Dero Oratorium“ bezeichnete und mit einem kleinen Ofen sogar geheizte Kurfürsten-Loge, während in den seitlichen Emporen die Minister und die Hofdame der Kurfürstin Platz nehmen, in den Sitzreihen das übrige Gefolge.„Den 24. als am Vorabende vor Weyhnachten verfügt sich sämtliche hohe Herrschaft abends gegen 11 Uhr nach Dero Oratorium, um der Christ=Metten beyzuwohnen“, kündigt der Hofkalender für das Jahr 1777 – wie auch nahezu textgleich für die Vorjahre – an. Den hohen Rang des Tages macht der folgende Text deutlich: „Nach welcher um 12 Uhr das hohe Amt bey ausgesetztem Hochwürdigsten Gut gehalten wird“, so der Hofkalender. „Da wird das Tabernakel geöffnet, die geweihte Hostie präsentiert wie sonst nur an Fronleichnam“, erläutert Uta Coburger, für das Mannheimer Schloss zuständige Konservatorin der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Und nicht nur das: Besonders feierlich und laut wird es, wenn der Priester nach dem Hochgebet zu den Zeilen „Durch ihn und mit ihm und in ihm …“ Hostienschale und Kelch emporhebt, sie der Gemeinde zeigt: „Während des hohen Amtes werden bey dem Gloria in exzelsis, bey der Elevation und bey dem letzteren Seegen die Kanonen von den Wällen gelöst“, so der Hofkalender – es hallt also Kanonendonner von den Mauern der Befestigungsanlagen hinein in die Quadratestadt.

Das hat keinerlei kriegerische oder martialische Bedeutung – Carl Theodor ist ja ohnehin als ein Kurfürst bekannt, der eher den Musen zugetan war und weniger dem Militär. Die Schüsse zeigen einfach die hohe protokollarische Bedeutung des Fests an. „Die Bevölkerung hat ja keine Uhr damals, sondern hört auf Glockengeläute und Kanonen“, so Uta Coburger, „und damit hat für die Leute Weihnachten angefangen.“

„Die Christmette an Heilig Abend in der Schlosskirche war eine grandiose Feier, die weit über Mannheim hinaus ihre Attraktivität entfaltete“, so Johannes Theil, bis Mitte 2015 über 27 Jahre lang Dekan der Alt-Katholischen Kirche mit Sitz in der Schlosskirche, der die Feste und Gottesdienste zur Zeit der Kurfürsten genau erforscht und publiziert hat.

Kanonendonner zum Te Deum-2
Im Rittersaal saß man an Spieltischen, hat Tee oder Schokolade getrunken und der Hofmusik gelauscht. BILD: MARKUS PROSSWITZ

Neben dem liturgischen Teil spielt die Musik, wie generell am Hofe, auch zur Weihnachtszeit eine enorm große Rolle. So ist der Altarraum der Schlosskirche mit einer Orchesterempore ausgestattet, die dem großen Hoforchester mit allein 20 bis 22 Geigen genügend Platz bietet und von einem riesigen Fresko von Hofmaler Cosmas Damian Asam („Das Pfingstwunder“) geziert wird. Doch obwohl dieser nicht nur aus musikhistorischer Sicht für Mannheim so bedeutende Aufführungsort die Kriegswirren zusammen mit dem Aufwärmzimmer für die Bläser weitgehend unbeschadet überstanden hat, befinden sich da heute von der Schlosskirche abgetrennte Räume der Universität.

Ob von Johann Stamitz (1717-1757), Ignaz Holzbauer (1711-1783), Franz Xaver Richter (1709-1789) oder Georg Joseph Vogler (1749-1814) – von zahlreichen Komponisten gibt es mehr als ein Dutzend Werke, die eigens für das Mannheimer Hochamt zu Weihnachten komponiert worden sind. Das wohl bekannteste ist die Sinfonia pastorale (op. 4,2) von Johann Stamitz, dazu kommt viel Hirtenmusik, Arien als Propriumsvertonungen nach den Lesungen, Pastoralmessen sowie kurze Orchesterwerke. An besonders hohen Festtagen wird in Mannheim auch stets ein prachtvolles Te Deum (Lobgesang) aufgeführt.

Kein Wunder, dass die Christmette in der Hofkirche als „eine fête, die über alle fêten und Opern geht“ gilt. So schwärmt zumindest Christoph Martin Wieland. Das schreibt der Dichter, als „Kurfürstlich-Mainzischer Regierungsrath“ und „Herzoglich-Sachsenweimarischer Hofrath“ zugleich auswärtiges Mitglied der Kurpfälzischen deutschen Gesellschaft, in einem Brief vom 1. Dezember 1777 an seinen Freund Johann Heinrich Merck nach Darmstadt. Darin findet sich auch der Satz, er wolle „lieber ein Paar Finger verlieren“ als die Messe verpassen.

Dabei verliert Weihnachten während der Regentschaft von Carl Theodor an Bedeutung. Jedenfalls ist Weihnachten irgendwann kein „Galatag“ mehr. „Galatag“ – das heißt nicht nur großer Gottesdienst mit Kanonendonner sowie eine äußerst üppig gedeckte Tafel, sondern eine offene Bel Etage und damit die Chance für Mitglieder des Hofstaats und dort geduldete adelige Gäste (natürlich keine Bürger), dem Kurfürsten und seinem Appartement näher zu kommen als sonst.

Von 1748 bis 1761 vermerkt der Hofkalender zwölf solcher Galatage – außer Weihnachten auch Neujahr, Ostern, Fronleichnam, die Geburts- und Namenstage von Kurfürst Carl Theodor und seiner Gattin Elisabeth Augusta und einige Tage mehr. Das wird dann nach 1761 „radikal reduziert“, so Coburger, auf nur drei Galatage – Ostern und die Namenstage. „Wir wissen bis heute nicht, warum das so war, es können Sparmaßnahmen gewesen sein“, deutet Coburger an, doch gehe das aus den Hofkalendern und weiteren erhaltenen Dokumenten nicht genau hervor. Der Kanonendonner zu Weihnachten ist aber geblieben, trotz Abschaffung der Galatage – zumindest ist er bis 1773 überliefert.

Nun wird zum Jahresende ohnehin viel gefeiert in Mannheim. Am 4. November ist der – damals sehr wichtige – Namenstag von Carl Theodor, am 10. Dezember sein Geburtstag. „Große Galla bey Hof wegen Sr. Churfürstl. Duchleucht unseres Gnädigsten Lands=Fürsten und Herrn hohen Geburts=Tag“ vermerkt daher der Hofkalender. Und natürlich sind auch am 25. und 26. Dezember, am 27. Dezember (Hl. Johannes), 28. Dezember (Tag der unschuldigen Kinder in Erinnerung an den Säuglingsmord in Betlehem) und Silvester („feyerliche Dancksagung“) jeweils festliche Gottesdienste mit Hofmusik.

„Aber Weihnachten spielt zu der Zeit einfach noch nicht die Rolle wie heute“, betont Coburger. So sind keine besonderen Weihnachtsessen aus der Barockzeit überliefert. „Was wir heute mit Weihnachten verbinden, also Punsch, Zimt, Gewürze, Schokolade – das hat man damals das ganze Jahr gegessen und getrunken – zumindest bei Hof“, so Coburger. Man sitzt im Rittersaal an Spieltischen, in der Ecke hat die Hofmusik Platz genommen und unterhält die hohen Herrschaften, die plaudernd Tee oder Schokolade, mit Muskat oder Zimt gewürzt, trinken – das ist Alltag im Schloss.

Aber es gibt auch theologische Gründe. In der Barockzeit kommt die Diskussion auf, ob und wann Christus wirklich geboren wurde, zumal ja lange der Streit um den Julianischen oder Gregorianischen Kalender tobt. Weihnachtsbäume kennt man am – ja streng katholischen! – kurpfälzischen Hof ohnehin nicht. Die sind anfangs ein aus Straßburg kommender, rein protestantischer Brauch, die Evangelischen daher als „Tannenbaumreligion“ verschrien. Bei den Katholiken gilt vielmehr die Krippe als das deutlich wichtigere Symbol von Heiligabend. „So wie wir heute Weihnachten feiern, das ist erst Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen“, unterstreicht Coburger.

Die Geburt eines Kindes wird nicht als so wichtig genommen – „im Barock steht in der Religion das Leiden und das Wunder der Auferstehung im Vordergrund“, so Coburger. Also ist Ostern das allerhöchste Fest.

Kinder dürfen sich aber dennoch auch schon in der Ära der Kurfürsten auf Weihnachten freuen. Denn schon damals ist es „allgemeiner Brauch und altes Herkommen“, dass Eltern ihren Kindern „zur heiligen Christzeit mit allerhand Spielwerck“ beschenken, „mit dem Vorwandt, der sogenannte Heilige Christ“ habe das „zugestellet“. So steht es zumindest im „Frauenzimmer-Lexicon“ von Gottlieb Siegmund Corvinus von 1715. Peter W. Ragge