Herr Sommer, Mannheim wird mit bahnbrechenden Erfindungen wie dem Auto, dem Fahrrad oder dem Traktor verbunden, die allerdings lange zurückliegen. Ist der Ruhm der Erfinderstadt Mannheim verblasst?Christian Sommer: Überhaupt nicht. Ich glaube aber, dass es heute gar nicht mehr so einfach ist, solche bahnbrechenden Erfindungen zu machen, denn sie sind schlicht und ergreifend schon gemacht. Heute geht es eher darum, diese Erfindungen neu zu denken, zu interpretieren, zu kombinieren. Wir müssen das Thema Erfinderstadt ein wenig umdeuten und ich glaube, wir sind da nach wie vor sehr weit vorn, weil wir eine Reihe sehr spannender Startups haben, die Produkte oder Leistungen neu definieren.Zum Beispiel?Sommer: Zum Beispiel Stocard: Die haben, plakativ gesagt, den Geldbeutel neu erfunden, indem sie eine Wallet-App mit Bezahlfunktion geschaffen haben, in der Kundenkarten digital verwaltbar sind. Oder auch Snocks: Die haben im Prinzip ein ganz einfaches Produkt, nämlich Basics wie T-Shirts, Socken und Unterhosen, aber sie haben es geschafft, die modernen digitalen Vertriebswege derart optimal zu nutzen, dass diese Produkte ganz zielgerichtet angeboten und wie selbstverständlich online gekauft werden. Mannheim ist nach wie vor eine hoch innovative Stadt mit vielen tollen Menschen, die tolle Ideen haben.Was finden diese tollen Menschen hier?Sommer: Eine hohe Dynamik bedingt durch sehr viel Diversität. Ich glaube, dass Diversität einer der großen Schlüssel für Innovation ist. Wenn Sie nur Ingenieure in einen Raum setzen und an einer Idee arbeiten lassen, wird eine Ingenieurslösung herauskommen. Wenn Sie das Gleiche mit Controllern machen, kommt eine Controllinglösung heraus und wenn die das Gleiche mit Juristen machen, kommt eine Juristenlösung heraus. Aber wenn ganz unterschiedliche Leute, seien es Männer, Frauen, Techniker, Wirtschaftsleute, Leute mit Migrationshintergrund, wenn die also alle zusammen an Ideen arbeiten, kommen so viele Blickwinkel in die Idee hinein, dass daraus wirklich etwas Neues entstehen kann, oder neue Kombinationen bestehender Ideen. Das zeichnet Mannheim aus: Wir sind extremst divers auf allen Ebenen und wir versuchen, diese Potenziale zusammenzuführen. Das sehen wir als unseren Job bei Next Mannheim.

"DAS ZEICHNET MANNHEIM AUS: WIR SIND EXTREMST DIVERS AUF ALLEN EBENEN UND WIR VERSUCHEN, DIESE POTENZIALE ZUSAMMENZUFÜHREN."

CHRISTIAN SOMMER, NEXT MANNHEIM

Mit Stocard und Snocks haben Sie gerade zwei Startups genannt, die Produkte für Endverbraucher anbieten. Ein großer Teil der rund 330 jungen Unternehmen, die Sie bei Next Mannheim betreuen, ist aber eher auf der Business-to-Business-Schiene unterwegs, entwickelt also Produkte und Leistungen für andere Unternehmen.

Sommer: Das ist richtig und das liegt nicht zuletzt daran, dass Mannheim immer noch ein ausgewiesener Industriestandort ist. Dadurch wird es überhaupt erst möglich, B2B zu machen. Die Startups, die bei uns im Mafinex sitzen, wären in Berlin aufgeschmissen, weil es dort kein produzierendes Gewerbe gibt und somit keine direkte Zusammenarbeit mit den Partnern. Hier bei uns werden hoch komplexe B2B-Lösungen entwickelt, die eine technische Durchdringung haben, die weit jenseits des Verbraucherhorizonts liegen. Manchmal verstehe ich auch nicht auf Anhieb, was die eigentlich machen.

Resultiert daraus ein Kommunikationsproblem? Solche Erfolge herauszustellen ist ja schwieriger …

Sommer: … ganz genau das ist das Problem! Deshalb bin so dankbar, dass sich in Mannheim gerade eine E-Commerce-Szene entwickelt, die extrem erfolgreich ist, mit Snocks oder Paul Valentine oder Purelei. Deren Konzepte lassen sich der Öffentlichkeit einfach erklären. Aber erklären Sie mal ein super erfolgreiches Startup wie Opasca, das Patienten-Onboarding-Programme in Kliniken technisch organisiert. Da reden Sie eine Viertelstunde, so lange hört keiner zu. Es ist in der Tat schwieriger, deren Erfolg nach außen zu tragen, weil man nicht in einem Satz sagen kann, die haben das und das gemacht.

Auffallend viele der traditionellen Mannheimer Erfindungen haben mit dem Thema Mobilität zu tun. Heute ist die Gründerszene deutlich breiter aufgestellt und reicht von IT über Medizintechnik und Musik bis Mode. Sie sprechen von einem „Ökosystem“. Eine Monokultur mit einer Spezialisierung auf eine oder wenige Branchen wäre verkehrt?

Sommer: Davon bin ich fest überzeugt. 1886, als Carl Benz das Automobil erfand, konnte man mit vier Rädern und einem Motor die Welt verändern. Heute ist alles komplizierter, sehr viel ausdifferenzierter. Aber durch den Austausch verschiedener Bereiche, das Zusammenbringen vieler Aspekte wird es möglich, die Komplexität der Welt in den Innovationsgedanken hineinzukriegen. Meiner Meinung ist das der Schlüssel für weitere Erfindungen und Innovationen.

"Es ist immer noch nicht so, dass alle sofort glänzende Augen kriegen, wenn sie den Namen Mannheim hören, aber die Stadt wird heute mit ganz anderen Attributen verbunden, als das noch Mitte der 90er Jahre der Fall war."

CHRISTIAN SOMMER, NEXT MANNHEIM

Mannheim hat in den vergangenen 20 Jahren viel getan, dieses Ökosystem zu schaffen und zu pflegen. Warum?

Sommer: Was Mannheim tut, ist enorm und einzigartig in Deutschland. Das sage ich nicht, weil ich Geschäftsführer von Next Mannheim bin, sondern weil ich diese Rückmeldung bei meiner Arbeit in verschiedenen Gremien bekomme. Alle loben, was wir machen - mit acht verschiedenen Startup-Zentren, Förderprogrammen und Beratungsleistungen. Aber: Das ist auch ein bisschen aus der Not heraus entstanden, denn anders als zum Beispiel in Berlin hat sich hier keine Gründerszene von selbst entwickelt. Mannheim musste das anstoßen und auf den Weg bringen. Auslöser war der Strukturwandel: Die Stadt musste sich neu erfinden und eine eigene Agenda entwickeln. Ich denke schon, dass wir dabei Maßstäbe gesetzt haben, gerade durch den Ansatz, Stadtentwicklung, ein Startup-Ökosystem und Interdisziplinarität in einem Kontext zu sehen. Und es funktioniert ja: Mittlerweile entstehen Vernetzungen unter den Startups auch ganz ohne unser Zutun.

Welche sind das?

Sommer: Die Hochschule Mannheim hat ein tolles Projekt gestartet: das MARS - Center for Entrepreneurship. An der Uni Mannheim gibt es etliche studentische Initiativen und Johannes Kliesch, der Gründer von Snocks, positioniert gerade das E-Commerce-Thema neu. Mittlerweile kooperieren wir, aber begonnen hat das alles ohne uns und das ist auch gewünscht. Auch wenn jetzt vielleicht ein paar Kollegen wegen dieser Aussage mit mir schimpfen werden: Ich finde, wenn es Next Mannheim in zehn oder 15 Jahren nicht mehr braucht, haben wir unser Ziel erreicht. Mission erfüllt und alles ist gut.

Trotz aller Diversität setzen Sie durchaus strategische Förderschwerpunkte. Wo sehen Sie die Zukunftsbranchen?

Sommer: Ganz klar im Bereich Life-Science, also Medizin und Medizintechnik. Da sind die Potenziale, wo Technologie auf wirkliches Leben trifft, und da ist noch viel Raum für Innovation. Auch die Themen Green Tech, Green Economy und Circular Economy, also Technologien, die die Situation unseres Planeten und unsere Lebensumstände verbessern, werden definitiv Zulauf haben. Nachhaltigkeit ist das zentrale Thema. Was wir tun, muss künftig noch viel höheren Ansprüchen genügen. Wenn morgen ein Gründer zu uns käme mit einer Idee, die zwar Aussicht auf Wachstum und Wertschöpfung hat, aber nicht nachhaltig wirkt oder sogar unserem Lebensraum schadet, müssten wir überlegen, ob wir diese Idee wirklich fördern wollen.

Gab es deswegen bereits Ablehnungen?

Sommer: Eine Ablehnung ist die letzte der Eskalationsstufen. Unsere Aufgabe ist zunächst, Möglichkeiten aufzuzeigen und Hilfestellungen zu geben. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass das Problem gar nicht so oft auftauchen wird, denn ich erlebe ein großes Umdenken in der neuen Startup-Generation gegenüber der Generation davor. Die jungen Startups wollen gemeinwohlorientiert arbeiten und sie müssen Nachhaltigkeit ganz stark in ihrem Betriebssystem verwurzeln. Wer keine guten Antworten auf Fragen zu CO2-Neutralität oder auch Gendergerechtigkeit hat, wird es schwer haben, gute Mitarbeiter zu finden.

Was sollte ein Gründer idealerweise noch mitbringen?

Sommer: Ein hohes Maß an Flexibilität und die Fähigkeit, neu zu denken, wenn die Situation sich verändert oder wenn man feststellt, man ist auf dem falschen Weg. Resilienz gegenüber Fehlentwicklungen ist entscheidend. Denn diese Heureka-Momente, dass man sagt: „Jetzt hab ich’s und so läuft das!“, werden in der Zukunft seltener. Stattdessen gibt es Momente, in denen man scheitert, wo man nochmal zurückgehen oder ein Stück nach links oder rechts rücken muss. Dazu braucht es eine bestimmte Art von Persönlichkeit, die dann nicht eisern am definierten Ziel festhält, sondern Idee, Ziel und den Weg dahin entsprechend anpasst. Das ist das Schlüssel-Skill der Zukunft. Und natürlich die klassischen Unternehmertugenden: Beharrlichkeit, Zähigkeit, kommunikative Fähigkeiten.

Wie sind die Mannheimer Startups durch die Pandemie gekommen?

Sommer: Wir hatten in Deutschland das Glück, dass es sehr große Unterstützung vonseiten der Bundesregierung, vom Land und auch von der Stadt gab, sodass wir bisher relativ wenig Ausfälle oder Insolvenzen hatten. Ich glaube allerdings, dass die ganze Wahrheit erst in den nächsten Monaten auf den Tisch kommt, wenn diese Hilfen wegfallen. Ich vermute, dass wir relativ gut dastehen, tue mich aber schwer, schon jetzt eine abschließende Aussage zu treffen.

Was sind derzeit die größten Herausforderungen für junge Unternehmer?

Sommer: Wir sind ein starker B2B-Standort. Die Projekte unserer Startups sind größtenteils Innovationsprojekte und in die Zukunft gerichtet und das sind oft genau die Dinge, die bei großen Unternehmen hintenangestellt werden, wenn diese stark mit sich selbst beschäftigt sind. Allerdings hat die Pandemie ja auch gelehrt, dass es gerade jetzt darauf ankommt, auf Zukunftsideen zu setzen.

Hat die Krise auch Innovationen begünstigt?

Sommer: Die Themen Digitalisierung und „New Work“ haben einen enormen Schub bekommen. Es ist ja mittlerweile fast schon eigenartig, wenn ein Unternehmen seinen Mitarbeitern kein Coworking anbietet. Das dezentrale Arbeiten wird auf Dauer ein fester Bestandteil unserer Arbeitskultur bleiben. Dadurch sind neue Felder für Innovation entstanden: Zum Beispiel werden Kommunikations- und Kollaborationsplattformen gebraucht. Auf diesen Gebieten wird noch einiges passieren.

Next Mannheim fördert nicht nur gute Ideen aus der Region, sondern will gezielt auch Unternehmen aus dem Ausland nach Mannheim holen. Was bringt diese Internationalisierung?

Sommer: Auch da zählt der Diversitätsaspekt. Es geht darum, den hier bestehenden Akteuren, Institutionen und Unternehmen internationalen Austausch zu ermöglichen und den Approach von Startups aus der ganzen Welt in unser Startup-Ökosystem einzubringen, weil dadurch neue Impulse entstehen. Wir müssen uns internationaler, globaler begreifen. Damit meine ich aber nicht, dass man in Südamerika die Rohstoffe holen, in China produzieren und in Europa verkaufen muss, sondern die intellektuelle Zusammenarbeit über die Ländergrenzen hinaus.

Ist es leicht oder schwierig, internationale Startups nach Mannheim zu holen?

Sommer: Sagen wir so: Das Interesse, sich hier umzuschauen, ist immer sehr groß, zumal wir für den Aufenthalt eine kostenfreie Wohnung und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen können. Aber wenn die Gründer dann vor den regulativen Hürden stehen, zeigt sich, dass das alles kein Selbstläufer ist. Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis, Kontoeröffnung – puh! Es wird eine unserer Aufgaben für die nächsten Jahre sein, solche Hürden abzubauen. Und was Europa angeht: Da ist die Sprachbarriere ein großes Thema. Gerade in der Zusammenarbeit mit Frankreich und unserer Partnerstadt Toulon erleben wir, dass viele französische Unternehmer kaum Englisch sprechen. Es gibt also viele Herausforderungen, zum Teil beherrschbare, zum Teil schwer zu überwindende, aber es ist letztlich unsere Aufgabe, Hilfestellung zu geben, um ein diverses und internationales Ökosystem hier anzusiedeln.

Am Image Mannheims scheitert es also nicht?

Sommer (lacht): Es ist immer noch nicht so, dass alle sofort glänzende Augen kriegen, wenn sie den Namen Mannheim hören, aber die Stadt wird heute mit ganz anderen Attributen verbunden, als das noch Mitte der 90er-Jahre der Fall war. Da haben wir viel erreicht. Mannheim hat sich als erste Stadt in Deutschland das Label „Musikstadt“ gegeben, hier entstand das erste Kreativwirtschaftszentrum. Wir waren immer ein bisschen Frontrunner der Bewegung. Heute ist Mannheim für Startups eine der ersten Adressen in Deutschland. Die Industriedichte ist ein Standortfaktor, das Umfeld, der Austausch und die Unterstützung durch Next Mannheim sind weitere.

Was muss noch besser werden?

Sommer: Jetzt müssen wir nachhaltig werden. All das, was wir an harten Fakten und guten Ansätzen haben, müssen wir transformieren auf nachhaltiges Wirtschaften, das keinen Schaden bei jemandem oder irgendetwas hervorruft.

Wo sehen Sie Mannheim in zehn, 20 Jahren? Wird Mannheim eine Stadt der Innovationen bleiben?

Sommer: Meine Vision ist, dass mit Mannheim dann der Begriff der innovativen Stadt verbunden wird, die es geschafft hat, die nachhaltige Transformation hinzubekommen. Eine Stadt, die divers ist, in der zusammengearbeitet wird, in der alle gut und tolerant zusammenleben. Und ich wünsche mir, dass von Mannheim neue Ideen, Impulse und Innovationen ausgehen. Die werden vermutlich nicht mehr die Wucht eines Automobils haben, aber vielleicht sind es statt einer Idee ja fünf, die die Welt nachhaltig verändern und verbessern. UTE MAAG

ZUR PERSON

Next Mannheim: „Wir waren immer ein Frontrunner der Bewegung“-2

Christian Sommer, 1966 in Mannheim geboren, arbeitete zunächst als Manager in der Musikbranche, ehe er 2003 die Leitung des Musikparks Mannheim und 2011 zusätzlich die des Mafinex Technologiezentrums übernahm. Seit 2014 ist er Geschäftsführer der Mannheimer Gründungszentren GmbH. Chef von acht verschiedenen Clustern zu sein, in denen unter der Dachmarke Next Mannheim (bis 2020: startup Mannheim) mehr als 300 junge Unternehmen gefördert werden, ist für den früheren deutschen Jugendmeister im Hammerwurf die, Zitat, „spannendste Aufgabe meines Lebens“.