Mit seinen 309 370 Einwohnern hat Mannheim nicht nur als Kommune in der Geschichte seiner gut 400 Jahre einen Quantensprung von der spätmittelalterlichen Festung in der Kurpfalz hin zu einer Handels-, Industrie- und Kulturstadt zurückgelegt – es sind auch die brillanten Köpfe, die das Potenzial dieses geografischen Ortes zwischen Rhein und Neckar nutzten, um mit ihren Erfindungen die Welt nachhaltig zu verändern. Mit ihren Innovationen – so sollte es die Geschichte zeigen – schafften sie einen Geist und Impulse, die auch Jahrhunderte später noch zeitlos gültig sind und bis heute fortwirken.NOT MACHT ERFINDERISCH: HISTORISCH GEWACHSENE SCHAFFENSKRÄFTEDie Visionen großer Geister machen sich erstmals 1816 unmissverständlich bemerkbar. Die Verleihung der Stadtprivilegien liegt zu diesem Zeitpunkt gute 200 Jahre zurück – als die Welt und damit auch die Rhein-Neckar-Region mit einer bis dahin beispiellosen Katastrophe umgehen lernen musste. Denn die Folgen des heute legendären Vulkanausbruchs in Indonesien machen sich global bemerkbar. Gewaltig hatten die Aschewolken des Tambora den Globus verfinstert, bescherten auch Deutschland und Mannheim einen sogenannten „Schneewinter“. Die Folgen waren verheerend – und das nicht allein, weil der Ausbruch rund um die Lavafluten selbst Zehntausende das Leben kostet und auf die Ernteausfälle der Bauern eine internationale Cholera-Epidemie folgte, die von Bali aus auch wesentliche Teile der westlichen Welt erreichte, sondern weil die Versorgung mit Gerät und Lebensmitteln plötzlich nahezu brach lag. Um eine, wenn auch reduzierte, Form der Mobilität zu ermöglichen, wagt Karl Drais den Versuch, aus Holz ein stabiles, zweirädriges Gefährt zu bauen, mit dem Bauern, aber auch Handelsleute ihr Fortkommen und damit ihre Zukunft solide sichern können. Schnell stellte sich heraus: Seine Laufmaschine war als legitimier Vorgänger des heutigen Fahrrads kein versponnenes Experiment, die Erfindung reagierte vielmehr brillant und breit auf eine Krise und die daraus entstandenen Leiden. Der Leitsatz „Not macht erfinderisch“ löste sich damit auf kongeniale Art und Weise ein und setzte den Startpunkt einer Innovationskraft, die in Mannheim noch lange anhalten sollte.Denn vollkommen gleich, ob in der Folge die Firma Siemens 1880 mit der Entwicklung des ersten elektrischen Aufzugs nachzog, Carl Benz mit seinem Patentwagen sechs Jahre später sein erstes Automobil vorstellt oder die Lanz AG 1921 mit dem Traktor die Revolution für die Landwirtschaft präsentierte: Von Ludwig Roebel bis Julius Hatry ist Mannheim geprägt von einem Geist historischer Handlungsfähigkeit im Wandel. Eine Kompetenz der Vielen, die nicht immer nur aus der Not heraus reagierte, sondern oftmals schlicht proaktiv die klare Verbesserung der Lebensverhältnisse zum Ziel hatte, wenngleich festzuhalten bleibt: Ein historisch gewachsener Pragmatismus hat die Quadratestadt zu einem Aushängeschild kluger Köpfe werden lassen, auf das nicht nur Deutschland, sondern auch die Welt seither mit neugierigen Augen blickt.ERMÖGLICHUNGSRÄUME ZWISCHEN OFFENHEIT UND FORTSCHRITTÜberhaupt real wurde dieser Möglichkeitsraum Mannheim entscheidend auch durch seine Gestaltung im Lauf der Jahrhunderte. Denn Mannheim strahlte nicht nur als Residenzstadt des Kurfürsten nach ganz Europa aus – auch die gesellschaftliche Dimension spielt hier eine entscheidende Rolle. Denn während andere Herrschaftsbereiche der späteren Bundesrepublik Deutschland vor allem auf ihre innere Entwicklung fokussiert bleiben, wird Multikulturalität in Mannheim bereits seit dem 18. Jahrhundert zu einem zentralen Element. Getrieben wird die Internationalisierung der Quadratestadt einerseits durch die Industrialisierung und die daraus folgende Expansion von Raum und Einwohnern, andererseits jedoch auch durch eine bewusste Offenheit für das Neue, Fremde und Spannende. Bereits vor mehr als 300 Jahren gilt die Stadt so als Schmelztiegel der Kulturen und lädt damit ein unverkennbar innovatives Potenzial zu sich ein, das sich an ganz konkreten historischen Meilensteinen messen lässt.Die beginnen bereits bei der kulturellen Dimension der Künste. Denn auch, wenn das Publikum des Mannheimer Nationaltheaters zunächst wenig bereit für den literarischen Mut eines Friedrich Schiller zu sein scheint, schreibt die Uraufführung der „Räuber“ 1782 ein beispielloses Kapitel bewegter Theatergeschichte. Der junge Komponist und Instrumentalist Wolfgang Amadeus Mozart hat auf seiner Wunderkindreise zu diesem Zeitpunkt unlängst bereits fünf Monate in Mannheim verbracht und die Stadt sowie ihre kompositorische Tradition derart geprägt, dass die sogenannte „Mannheimer Schule“ mit ihren Werken noch heute in den Lehrwerken musikalischer Fakultäten zur Standard-Literatur gehört. Wenn auch heute gerne vergessen, ist es 1925 eine Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, die sich dem Titel der „Neuen Sachlichkeit“ verschreibt und damit so gewaltige Impulse in der Kunstwelt setzt, dass sich eine ganze Epoche daraus entwickelt. Dass Künstler wie Max Unold und Otto Dix später zu Granden des deutschen Kunstbetriebs werden, liegt freilich nicht allein in der Begründung einer Disziplin, die ihre Arbeiten diskursfähig werden ließ – die Wurzeln jedoch, die liegen unverkennbar auf Mannheims Pflaster.Überhaupt gehört das Vorausdenken für den kraftvollen Aufbruch nicht allein der Revolution. Als führende Köpfe 1868 mit der „Mannheimer Akte“ an einem der größten Binnenhäfen Europas den Weg für eine freie Schifffahrt in Europa ebnen, wird das seinerzeit zu Recht als Durchbruch gefeiert. Und doch ist es vielmehr eine gesunde Evolution, die hier beschrieben wird, bauen Gründer, Ideengeber und Herrschende auf Bestehendem auf, entwickeln es weiter – und agieren mutig, ja, zukunftsweisend. Die „Mannheimer Akte“ ist hierfür in der Tat ein besonders sinnfälliges Beispiel. Denn für politische Konsensvereinbarungen dieser Art, die in Mannheim von kleinen Verhandlergruppen heftig Entschlossener getroffen werden,sondieren heute hunderte Berufspolitiker in Berlin um Koalitionsverträge – mit dem entscheidenden Unterschied, dass die schon damals visionär verfasste Akte tatsächlich noch heute und damit mehr als 150 Jahre später mit einigen wenigen Ergänzungen den internationalen Verkehr auf dem Rhein regelt. Eine Leistung, die in ihrer historischen Gültigkeit imponiert und für sich spricht.DIE GRUNDLAGEN BEWAHREN UND POTENZIALE FÖRDERNEs sind dies alles Eckpfeiler und Leitplanken, die all jenen, die heute Innovationen in und für Mannheim vorantreiben wollen, zweifellos zugutekommen. Einerseits, weil der historisch begründete Ruf Mannheims als Pflaster von zukunftsweisenden Ideen keineswegs erloschen ist. Andererseits, weil sich die Rahmenbedingungen auch den gewandelten Bedürfnissen angepasst haben. In Mannheim leben heute Menschen aus mehr als 170 Nationen, die sich mit ihrem unternehmerischen Mut in zahlreichen städtischen Coworking-Spaces organisieren, mit der Hilfe von Next Mannheim eigene Firmen gründen und behutsam aufbauen können. Aktuelle Zahlen belegen die Tendenz, dass das auch junge Entrepreneure genau so begreifen. Denn mit einer Existenzgründungsquote von 7,1 Prozent liegt Mannheim deutlich über dem Bundesdurchschnitt, weshalbsich die Stadt mit mehr als 300 Startups und acht Gründerzentren selbstbewusst und mit gutem Recht als „Existenzgründerstadt“ begreift. Für die Lenker und Leiter des Mannheimer Stadtmarketings zeichnet sich Mannheim so als urban-innovative Modellkommune aus, die einerseits die großen Player wie Roche, Mercedes, Bilfinger, Essity und Fuchs halten konnte, ohne dabei die zunächst kleinen Ideen zu ersticken, die in Laboren reifen, um ihre große Zukunft mitunter erst noch vor sich zu haben.Auch, dass sich vorhandene Traditionen durchaus fortgeschrieben haben, ist so nachweisbar wie beeindruckend. Denn wo Mozart vor mehr als 200 Jahren für Furore sorgte, bildet heute die Mannheimer Popakademie Talente aus, die später nicht selten in den Charts auftauchen. Wo einst Kurfürst Carl-Theodor dinierte, werden an der Universität heute Professoren ausgebildet, die weltweit beachtete Publikationen veröffentlichen. Und nicht zuletzt: Wo Mannheim seit seiner Gründung internationale Gesellschaftsgeschichte schrieb, sitzen heute europaweit tätige Institute für Sozial- und Wirtschaftsforschung, die Tendenzen früh erkennen, empirische Daten liefern und damit nachhaltige Verbesserungen initiieren und lenken. Die Entwicklung geht gar so weit, dass Formate wie der Urban Thinker Campus oder Placemaking-Konzepte wie bei der Multihalle sogar bürgerschaftliche Partizipation konsequent mitdenken und so Einfluss für all diejenigen schaffen, die Interesse daran haben, eine Stadt wie Mannheim progressiv mit zu prägen.All das sind mitnichten Entwicklungen, die in ihrer Kontinuität, aber vor allem in ihrem fortwährenden Entwicklungswillen als selbstverständlich zu betrachten wären. Sie sind vielmehr auf eine vorgelebte Kultur zurückzuführen, die den Innovativen – bei allem vorhandenen Risiko – sowohl Mut und Raum als auch Ressourcen zur Verfügung stellte, damit aus Wagnissen Wahrheit werden durfte. Eine Philosophie, die sich fortschreiben wird. MARKUS MERTENS