Den Preis für Schauspielkunst vom Festival des deutschen Films hat sie erst am Abend zuvor verliehen bekommen, als wir Claudia Michelsen im Ludwigshafener Hotel Moxy treffen. In der Hotellobby dröhnt der Jazz viel zu laut – und so tragen wir die Sessel schlichtweg vor den Hotel-Eingang, an dem sich – geleitet vom Straßenlärm und der Kulisse von Passanten – ein Gespräch über Kunst als Protest, die Kraft der Wahrhaftigkeit und die Erfüllung von Überraschungen entwickelt. 45 Minuten, die zu einem wahren Diskurs werden.Frau Michelsen, haben Sie mal darüber nachgedacht, was aus Ihrem Leben geworden wäre, wenn Sie doch zur Funkoffizierin geworden wären?Claudia Michelsen: Das war ein Jungmädchentraum, der vom Fernweh in die weite Welt inspiriert war. Ich habe das nie ernsthaft gewollt. Obwohl, in diesem Moment war es doch ernsthaft…

War also die Entscheidung, auf die Schauspielschule Ernst Busch zu gehen, die richtigere Wahl? Oder hätte Sie etwas anderes doch mehr erfüllt?

Michelsen: Ich reflektiere nicht in dieser Form, insofern weiß ich offen gestanden gar nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll. Was ich Ihnen sagen kann: Es ist so gekommen. Ich kann für mich nicht sagen, dass es eine falsche Entscheidung war und ich das hätte anders machen müssen. Natürlich gibt es Lebensentscheidungen, von denen ich sagen würde, ich hätte sie rückwirkend ganz anders gemacht – aber es hat sich einfach auch so ergeben, dass ich bei der Schauspielerei blieb. Eigentlich wollte ich Musik studieren, dann ging ich nach Amerika und bekam ein Kind. So schreibt das Leben dir ganz andere Geschichten, als die, die du dir selbst einmal ausgedacht hast.

Ihre Wahl war ja aber nicht allein dem Schicksal geschuldet. Sie haben immer wieder auf den politischen Diskurs verwiesen. Der Protest in Dresdner Zeiten, aber später auch in Berlin, die Jugend, die das Schauspiel wirklich diskutiert hat. Wie wichtig war Ihnen das?

Michelsen: Der eigentliche Beweggrund, wirklich bei der Schauspielerei zu bleiben, war ein politischer, das ist vollkommen richtig. Das rührte nicht daher, dass ich unterhalten oder gemocht werden wollte. Ruhm hat mich ohnehin noch nie interessiert. Dieser Zwang nach Aufmerksamkeit. Im Rampenlicht zu stehen. Das sind alles Dinge, die mir nie etwas bedeutet haben. Ich wollte dabei sein, wollte bewegen und verändern, nützlich sein. Denn damals in Dresden war es einfach unglaublich, wie sehr das Theater die jungen Menschen angezogen hat. Man muss sich das vor Augen führen: Die Konkurrenz waren Rockkonzerte oder Versammlungen in Kirchen. Es gab eine große Notwendigkeit, mit dabei sein zu wollen. Dinge zu verändern. Auf diesen Wandel hinzuweisen. In einen stillen Dialog mit dem Publikum zu gehen – weil wir eigentlich das Gleiche wollten, das Gleiche meinten und uns gegen dieses kranke System auflehnten. Dann studierte ich bis 89, die Mauer fiel und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Wir mussten uns alle neu erfinden und ich hing plötzlich in diesem Metier fest. Vielleicht lief es auch zu gut. Ich war damals an der Volksbühne, an der Schaubühne, am Deutschen Theater – und dann habe ich das Theater hingeschmissen. Oder wie ich heute vielleicht sagen würde: Ich habe mich für die Liebe entschieden und den Beruf verlassen. Nur, dass er auf eine andere Art und Weise wieder zu mir zurückfand.

Wie kam es zu dieser Wiederkehr? War das ein besonderer Moment, oder hatten Sie einfach Sehnsucht?

Michelsen: Das war viel pragmatischer, als man es sich vorstellt. Ich war in Amerika, war jung verheiratet, wurde bald schwanger – doch dann kamen sehr bald Angebote für verschiedenste Filme. Ich flog nach Deutschland, realisierte diese Projekte, kehrte dann so schnell wie möglich nach Amerika zurück und konnte ganz profan auch Geld verdienen indem ich meinen gelernten Beruf ausübte. Trotzdem kann ich nicht behaupten, dass ich das nur mit meinem halben Sein gemacht hätte, obwohl mein Lebensmittelpunkt inzwischen woanders war. Es gibt sicherlich auch Filme, die ich besser gelassen hätte. Aber manchmal musste einfach auch nur die Miete verdient werden. So kam der Beruf dann doch wieder zurück – wenn auch ohne das geliebte Theater.

Trotz allem haben Sie immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass Sie Drehbücher mit großen Rollen in den Händen hatten, bei denen der Eindruck überwog, ihnen nichts mehr geben zu können. Wie entwickelt man diesen Anspruch?

Michelsen: Das ist in der Tat unbewusst und instinktiv passiert. Da kann ich jetzt tatsächlich etwas anders draufschauen und in etwa erahnen, ob ich da richtig oder falsch lag. Ein klares Urteil würde mir auch hier nicht helfen, denn meine Entscheidungen hatten ja Folgen. Aber wenn ich mich gegen eine Rolle entschieden habe, war das Gefühl in diesem Augenblick jedenfalls stark genug, mich nicht in den Dienst dieser Geschichte oder dieser Figur stellen zu können und das ist für mich immer die einzig treibende Kraft.

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Schon als Kind war Claudia Michelsen voller Neugier und Leidenschaft. BILD: PRIVAT
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Der Film, das Schauspiel und die Bühne – all das faszinierte sie schon als junge Frau. BILD: PRIVAT
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Auf Fürsorge und Emotionalität versteht sie sich wie hier im Film „Alles Isy“. BILD: RBB/JANA LÄMMERER

Gleichzeitig wollen Sie aber auch nicht uniform spielen, sich immer wieder im Kreise drehen und das gleiche Figurenbild erzählen. Wie bekommt man das zusammen?

Michelsen: Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn du einmal als finstere Figur gesehen wurdest und plötzlich alle sagen: Wahnsinn, wie toll die böse spielen kann – und du dann ein Dutzend Angebote als feixende, böse Schwiegermutter bekommst. Da ist die Phantasie oftmals sehr begrenzt, gerade bei Filmschaffenden. Ich versuche jedenfalls zu reflektieren, das hast du doch genau so schon einmal erzählt. Ich will dem Zuschauer, der genau das vielleicht schon gesehen hat, diesen „Betrug“ nicht zumuten. Ich möchte das nicht. Die Angst vor diesen Wiederholungen wächst mit jedem Mal.

Werden wir konkret, Frau Michelsen: Als Sie in der „Ku’damm“-Reihe die Caterina Schöllack spielten, die Sie selbst als „preußische Mutter“ bezeichnen, die aus dem Nationalsozialismus mit Struktur und Härte kommt, waren Sie sich da sicher, dass Sie dieser Frau genug Leben schenken können?

Michelsen: Eine gewisse Nervosität bleibt immer, weil man nie weiß, ob man der Figur wirklich alles gegeben hat, was man konnte. Man kann es immer nur versuchen. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass wir als Schauspieler hochgradig davon abhängig sind, was Andere mit dem machen, was du gegeben hast. Da gibt es Momente, die dir für die Figur unglaublich wichtig waren – und genau die fallen dem Schnitt zum Opfer, sie schaffen es gar nicht in den Film, weil andere darüber entscheiden. Film entsteht am Schneidetisch noch mal ganz neu. Dann kommen die Editoren und die Regie mit ihrer Lesart der Dinge hinzu. Das ist ein ganz eigener kreativer Prozess. Insofern habe ich immer nur ein Gefühl für das, was wir während der Drehzeit kreiert haben. Für „Ku’damm“ kann ich aber behaupten, dass sich der Teil, den ich beeinflussen kann, gut einlöste.

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In der „Ku’damm“-Reihe spielte Claudia Michelsen die Rolle der harten Mutter Caterina Schöllack. BILD: ZDF/STEFAN ERHARD
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Als Doreen Brasch überzeugt Claudia Michelsen in der Rolle der „Polizeiruf 110“-Ermittlerin seit 2013. BILD: MDR/STEFAN ERHARD

Ich frage das bewusst mal anders: Sie haben ja gerade eben und auch immer wieder von der Wahrhaftigkeit gesprochen, die das Schauspiel für Sie braucht. Wie stellen Sie die her?

Michelsen: Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, weil ich es nicht beschreiben kann. Vielleicht ist es aber auch ganz simpel: Denn auch privat wissen Sie ja in einer Situation, ob das so stimmt, oder, ob es nicht stimmt. Sie haben ein Bauchgefühl zu etwas – oder Sie haben es nicht. Sie mögen eine Fotografie, oder Sie mögen Sie nicht. Das ist im Schauspiel nichts anderes. Das ist bei Ihnen vermutlich ganz ähnlich: Sie haben einen Interviewpartner und merken, ob Sie diese Person spüren können, oder ob einfach so gar nichts geschieht. So ergibt sich, ob eine Verbindung entsteht oder immer eine Distanz bleibt. Genauso merke auch ich: Kann ich mich in den Dienst der Erzählung, der Figur stellen, oder bleibt sie mir fremd.

Und wie bringt man sich in die Situation, dass diese Verbindung entstehen darf?

Michelsen: Ich frage mal zurück: Warum nimmt ein genialer Maler in diesem Moment diesen Pinsel oder genau diese Farbe? Wie kommt er dazu? Diesen Prozess kann ich nicht auseinandernehmen – und vielleicht ist er genau deswegen für mich so wertvoll, weil er unerklärt bleiben darf und sollte.

Ist diese größtmögliche Herausforderung ein Reiz? Es sich nicht zu einfach gemacht zu haben, mit den Rollen, die man am Ende dann angenommen hat?

Michelsen: Wenn es mir zu leicht fällt, werde ich skeptisch. Die Herausforderung oder eben auch der Widerstand ist essenziell. Ob es über ein Kostüm, eine Maske, eine Haltung oder eine Gedankenebene ist, die da gar nicht geschrieben steht. Wenn ich den Text zu einer Liebesszene lese, im Buch steht „Ich liebe dich“, ich aber Distanz fühle, Hass fühle, Kontraste wahrnehme. Ich kann das nicht bis zum Ende beschreiben und der Versuch, es doch zu tun, wird immer missglücken, aber die Haltung dahinter, die ist entscheidend. Gleichzeitig hat aber auch das Einfache oft eine große Schönheit. Wenn Figuren, Situationen oder Geschichten dir zeigen: Das Einfache ist gerade das Größte. Ich muss nicht immer einen Widerstand herstellen. Wie gesagt, es hängt vieles davon ab, wie sehr ich mich in den Dienst dieser Geschichte stellen kann.

Wie erfüllend ist dieser Kampf für das richtige Verhältnis?

Michelsen: Mal mehr, mal weniger. Manchmal bin ich auch etwas enttäuscht, weil das Ergebnis dann so ganz anders wurde, als ich es vielleicht gern eigentlich gesehen hätte. Das heißt aber nicht, dass es schlussendlich schlechter sein muss, weil ja auch andere kreative Köpfe beteiligt sind, die fest dazu stehen, dass es so viel besser ist. Dass die Musik, der Schnitt, die Kameraeinstellungen genau so absolut großartig geworden sind, während ich das als vollkommenen Betrug empfinde. Das ist aber auch das Schöne an diesem Beruf: Dass er so viele unterschiedliche Perspektiven vereinen können muss. Sonst müsstest du wirklich Trickfilm machen, um sicherzustellen, dass alles genau so läuft, wie du es haben willst. Ich mache mehr und mehr meinen Frieden damit.

Mit einer gewissen Form von Zerrissenheit muss man also umgehen?

Michelsen: Absolut, da führt kein Weg daran vorbei. Doch je älter ich werde, desto mehr ist das auch eine Art Luxus. Weil ich etwas mehr weiß, etwas mehr kenne, etwas mehr über den Dingen stehen kann vielleicht. Das heißt auch: Du brauchst Leute wie Kerstin Polte, die dich beobachten und dich wirklich sehen können – alleine bist du nichts in diesem Beruf. Du brauchst diese Partner, die dich in dem erkennen, was du bist und wofür du stehst, die begreifen und fühlen, was du zu geben, zu erzählen hast.

Ich unterstelle einfach mal, dass die Suche nach diesen Menschen nicht eben einfach sein dürfte…

Michelsen: Auch das ist ein Kommen und Gehen. Es ergeben sich über die Jahre Verbindungen und ebenso verliert man wieder welche. Die wenigsten bleiben wirklich, doch genau die sind dafür dann etwas ganz Besonderes. Eben die mit Kerstin Polte kam fast zufällig durch die Produzentin Katrin Haase zustande. Wir hatten ein Drehbuch, das mir überhaupt nicht gefiel, Katrin Haase schlug Kerstin Polte vor, die mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Begriff war, ich sah einen Film von ihr, war vollends begeistert und dachte mir: Wenn diese Regisseurin Lust auf dieses Projekt hat, kann das eine großartige Reise werden. Und genau so war es.

Wie sehr helfen dabei Figuren wie Doreen Brasch im „Polizeiruf“ oder das Duo mit Samuel Finzi in „Flemming“, um der eigenen Bestimmung gerecht zu werden?

Michelsen: Das ist interessant, dass Sie das fragen, denn gerade bei „Polizeiruf“ sind wir mit dieser Ermittlerin, die konstant in Bewegung ist, ganz woanders gelandet, als wir das anfangs gedacht hätten. Auch „Flemming“ war ein Geschenk, das wir keineswegs freiwillig aufgegeben haben. Insgesamt kann ich sagen, dass es einerseits hilft, die Figuren so lange zu kennen, es andererseits aber auch zu einer Gefahr werden kann. Weil man glaubt, wahnsinnig viel über den Charakter zu wissen, aber in Wahrheit eigentlich gar nichts weiß.

Zum Schluss muss ich doch noch einmal auf Ruhm zu sprechen kommen. Sie sind jetzt gerade frisch mit dem Preis in Ludwigshafen ausgezeichnet worden: Sie können mir nicht erzählen, dass Sie eine solche Würdigung völlig kaltlässt…

Michelsen: Einerseits fällt es mir schwer, solche Auszeichnungen anzunehmen, andererseits ist Würdigung etwas Schönes, auch, weil sie immer auch die mit meint, die einen auf diesem Weg begleitet haben. Die dich davor bewahrt haben, in Schaffenskrisen zu geraten und dich leer gespielt zu haben. Das macht einen entscheidenden Unterschied. Weil dir als Frau knapp über 50 mit zwei erwachsenen Töchtern relativ radikal klar wird, dass es Abschnitte in deinem Leben gibt, die unwiederbringlich vorbei sind. Es ist unmöglich, all den Herausforderungen gerecht zu werden. Aber dafür bin ich auch zu rastlos, zu hungrig geblieben. Ich möchte gar nicht alles vorher wissen. Um unmittelbar bleiben zu können, mich selbst noch überraschen zu dürfen. Die Neugier war schon immer mein Antrieb. Wenn das Fragenstellen aufhört, kann ich auch abdanken.

Würden Sie denn in Betracht ziehen, noch einmal etwas ganz anderes fernab der Öffentlichkeit zu machen?

Michelsen: Ich kann leider nichts anderes. Ich habe nichts anderes gelernt. (langes Nachdenken, Anmerkung der Redaktion) Vielleicht bin ich da einfach auch noch nicht und der Weg muss mich dort hinführen. Aber der Gedanke ist nicht neu und spannend – auch diese Frage muss immer wieder gestellt werden – und ich danke Ihnen dafür.

Markus Mertens